Kapitel 3 - Die Familie
Ich
schaue aus dem Fenster auf eine grüne, saftige Wiese mit Wildblumen und
Kräutern, eingerahmt von einem kleinen Bach und einigen Bäumen. Mehrere Schafe
fressen sich in der Abendsonne an den Gräsern des Spätsommers satt. Die ersten
Anzeichen des Sonnenuntergangs, eine leichte Verfärbung des Himmels, zeigen
sich am fernen Horizont. Nicht mehr lange und die Wiese mit den kleinen
Schäfchen wird in ein tiefes rot und orange gedrängt sein.
Ländlich.
Idyllisch.
Wenn
doch nur diese Ruhe und der Frieden auch im Haus Einzug erhalten würden.
Ich
neige leicht den Kopf und lausche auf das Kreischen meiner Geschwister. Sie
streiten sich schon wieder. Vermutlich geht es erneut um die Verteilung der
Zimmer. Ich hatte gehofft, dass das Thema erledigt war, als wir das Haus zum letzten
Mal vor einer Woche angeschaut haben. Schon damals konnten sie nicht aufhören
zu nerven, zu streiten. Jeder will unbedingt das größte und schönste Zimmer
haben. Keiner kann dem anderen etwas gönnen.
Geschwister.
Ich
habe mich einfach komplett herausgehalten und mir das Zimmer genommen, dass
keiner wirklich wollte. Es ist nicht das kleinste. Aber es ist auch nicht das
Beste.
Wenn
sich alle auf die Nummer eins stürzen, bleiben in der Regel die restlichen
Alternativen unbeachtet. Nur meine große Schwester hatte einen ähnlichen
Gedanken wie ich und hatte sich das zweitgrößte und zweischönste genommen.
Mit
Süd - Balkon.
Mit
Sonne.
Auch
wenn wir nicht mehr in der großen Stadt wohnen, muss sie doch immer perfekt
aussehen. Eine sonnengebräunte Haut gehört da natürlich dazu. Also bekam sie
den Balkon und ich das drittschönste Zimmer mit Fenster zum Sonnenuntergang und
zu den Schafen.
Auch
gut.
Nur
hatte diese Verteilung bei den beiden Zwillingen für noch mehr Streit gesorgt, blieb
doch nur das schönste, größte und das kleinste Zimmer übrig. Eins mit Balkon,
ein mit Fenster nach Norden. Eins hell und einladend, eins verhältnismäßig
dunkel und trist.
Streit
war da zu erwarten.
Aber
sie können nichts dafür.
Nicht
wirklich.
Meine
Eltern sind das Problem.
Sie
sind zu sehr mit ihren eigenen Sachen beschäftigt. Merken nicht, was ihre
Kinder machen. Merken nicht was sie brauchen.
Sie
sollten eingreifen. Ein Machtwort besprechen. Die Zimmer gerecht verteilen.
Aber sie ignorieren es. Hoffen vermutlich, dass sich die Probleme von selbst
lösen, wenn sie nur lange genug die Augen davor verschließen.
Jetzt
ist aus dem Kreischen ein Heulen geworden. Vermutlich hat meine kleine Schwester
ihrem Zwillingsbruder wieder einmal wehgetan. Sie wird es leugnen. Mit ihren
großen runden Augen meine Eltern anschauen und gewinnen.
Er
hat keine Chance. Er muss die Erwartungen an einen Jungen erfüllen. Heulen gehört
nicht dazu. Sich von einem gleichalten Mädchen wehtun lassen auch nicht. Er
wird verlieren.
Meine
Eltern merken einfach nicht, dass er zu feinfühlig ist und sie zu verschlagen.
Sie ist ein Mädchen. In einer perfekten, heilen Welt sind Mädchen nett und
freundlich. Aber leben wir in einer perfekten, heilen Welt?
Sie
lernt einfach schneller. Hat sich schon einiges von unserer Mutter abgeschaut.
Dazu
gehört auch der treuherzigen Blick mit den großen Augen, wenn es Probleme gibt.
Der
gleiche Blick, mit dem meine Mutter über Monate ihre Affäre mit einem jüngeren
Mann vor meinem Vater verheimlicht hat. Der gleiche Blick, der ihn lange hat an
den eindeutigen Zeichen zweifeln und an ihre Worte glauben lassen.
Vermutlich
dachte er nicht, dass sie genauso untreu sein könnte wie er. Genauso
berechnend. Genauso böse.
Ist
böse das richtige Wort? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist ein solches Verhalten
ja auch normal? Aber hätten sie dann auch so reagiert, wie sie es taten? Wenn
es normal wäre?
Als
sie herausfanden, wie sehr sie sich doch auch in dieser Hinsicht glichen,
beschlossen sie, ihren Probleme davonzulaufen und wegzuziehen.
Natürlich
nicht, ohne sich anzuschreien, zu beschimpfen und zu bedrohen. Ruhe kehrte erst
ein, als sie aufhörten die Schuld bei sich selbst oder dem Anderen zu suchen.
Diese Einstellung machte vieles einfacher.
Nicht
sie waren schuld, sondern die schlechte Umgebung. Die Stadt. Die Menschen.
Auf
dem Land, in einer kleineren Stadt, mit anderen Menschen würde es besser sein.
Würden sie treu sein.
Ich
glaube nicht daran. Aber doch hoffe ich, dass sie recht haben. Immerhin sind
sie meine Eltern, meine Familie. Was sollte werden, wenn ich nicht einmal an
sie glauben kann, ihnen vertrauen kann? Mit meinen 12 Jahren bin ich in einem
Alter, wo ich meine Eltern einfach brauche. Als Vorbilder, als rechte und linke
Grenze, als Helfer in der Not und als Vertraute.
Ich
will es nicht wahrhaben, aber doch weiß ich, dass sie nichts davon erfüllen.
Nicht
für mich, nicht für meine Geschwister.
Ein
leises Schluchzen zeigt mir, dass mein kleiner Bruder verloren hat. Seine Füße
klatschen leise auf dem Laminat, als er seinen Teddy hinter sich herziehend in
das kleine Zimmer mit dem Nordfenster schleicht.
Die
Stimme meine Mutter direkt hinter ihm, redend und doch nichtssagend. Das Zimmer
ist doch schön. Nicht jeder kann das große Zimmer haben. Dir wird es hier
gefallen. Einfach nur leere Worte.
Sie
merkt nichts.
Versteht
nichts.
Hilft
ihm nicht.
Ich
mache mir wieder daran, die Kisten auszuräumen.
Der
Vorteil davon, dass ich früh wusste welches mein Zimmer sein würde ist, dass
die Möbelpacker meine Sachen direkt hineinbringen konnten.
Mein
Bett, das Regal, der große Kleiderschrank und mein Schreibtisch stehen schon an
ihrem Platz. Nicht mehr lange und alles wird wieder so ordentlich sein wie in
meinem alten Zimmer. Aber das ist auch
dringend notwendig. Immerhin sind es nur noch wenige Tage, bis meine Eltern die
große Einweihungs- und Kennenlern- Party mit den Nachbarn geplant haben. Bis
dahin muss alles perfekt sein. So wenig sie sich auch um unsere Probleme
kümmern, umso wichtiger ist ihnen das Bild nach außen.
Die
perfekte, harmonische Familie.
Nichts
als Show, ein Schauspiel, ein Theaterstück, aber das muss umso überzeugender
sein. Es ist eine Maske die wir alle tragen, meine Geschwister, meine Eltern
und ich.
In
der großen Stadt konnte sie niemanden mehr täuschen, nicht nachdem zu viele Gespielinnen
und Affären dahinter schauen konnten. Nachdem die Arbeitskollegen und
Mitschüler sich den Mund darüber zerrissen haben. Nachdem meine Eltern sich
gegenseitig nicht mehr täuschen konnten.
Aber
jetzt sind wir hier.
Alles
ist neu.
Neues
Haus. Neue Gegend. Neue Nachbarn, Freunde, Arbeitskollegen und Mitschüler.
Neue
Masken.
Aber
die gleiche Familie. Wie lange wird es wohl dauern, bis sich die ersten Risse
in der neuen Fassade zeigen und die Masken verrutschen?
Ich
weiß es nicht.
Noch
nicht.
Aber
es ist nur eine Frage der Zeit.
Die Zeit bis zur Einweihungsparty verging fast wie
im Flug. Immer war etwas zu tun. Immer kam eine neue Kiste mit noch wichtigeren
Dingen zum Vorschein. Dinge, die einen neuen Platz brauchen, verstaut werden
mussten, um anschließend wieder in Vergessenheit zu geraten. Hätte ich in den
letzten Tagen nicht selbst viele davon in der Hand gehabt, hätte ich mich
niemals an diese Sachen erinnert.
Vielleicht hätte ich sie irgendwann vermisst.
Vielleicht. Aber ich glaube eher nicht.
Wenn man sich nicht einmal an ihre Existenz erinnern
kann, braucht man sie dann wirklich? Meine Eltern scheinen davon überzeug zu
sein. Schon sind wieder alle Regale voll, die Schränke quellen fast über und
die besonders wichtige Dekoration beginnt mit dem Einstauben. Der nicht endender
Kampf zwischen Staubtuch und Deko - Artikeln hat erneut begonnen. Was hat sich
verändert?
Nichts.
Nicht wirklich.
Das Haus ist neu. Aber würde man es mit alten
Bildern vergleichen, würde kein Unterschied auffallen. Aber die Nachbarn, die
seit etwa einer Stunde auf unserem Sofa sitzen haben dies natürlich nicht
bemerkt. Wie auch? Sie kennen uns ja nicht. Können noch nicht hinter die
Fassade schauen.
Für sie sind wir eine nette Familie, mit vier
Kindern, zwei fleißigen Eheleuten - immerhin sind beide berufstätig, keine
Selbstverständlichkeit heutzutage - und einem mit vielen Familienbilder und
Erinnerungsstücken eingerichtetem Haus.
Vier wirklich braven und liebenswürdigen Kindern.
Selbst meine große Schwester erweist meinen Eltern den Gefallen und hat ihr
freundlichstes Lächeln aufgesetzt, während sie meiner Mutter beim Aufdecken des
Kaffeetisches hilft.
Die Zwillinge spielen mit den kleinen
Nachbarskindern. Streiten sich nicht, teilen ihre Spielsachen und selbst als
der Nachbarsjunge die in mühsamer Kleinstarbeit erbaute Lego - Burg demolierte
gab es keine bösen Worte.
Wahre Engel also.
Könnten sie nicht immer so sein?
Nein.
Masken kann man nicht unbegrenzt tragen. Irgendwann
muss die Wahrheit, das wahre Ich, ans Tageslicht. Ich weiß es, denn ich trage
sie heute auch.
Sitze ich doch gerade neben meinem Vater auf der
Couch und lausche interessiert dem Gespräch der Erwachsenen. Leider gibt es in
der Nachbarschaft kein Kind in meinem Alter. Und mit den kleinen Spielen? Nein
danke.
Dann heuchele ich doch lieber noch ein wenig
Interesse. Und auch wenn man sich nicht selbst loben soll, muss ich doch
feststellen, dass ich meinen Job bisher ganz gut mache. Werde ich doch hin und
wieder ins Gespräch mit einbezogen.
Bravo.
Applaus.
Diese Feier ist eine wirklich gute Vorstellung von
der ganzen Familie. Das Theaterstück eines neuen Versuches, einer heilen und
glücklichen Familie, in einer neuen Stadt hat hiermit begonnen. Es ist nur eine
Frage der Zeit, bis sich der Spannungsbogen aufbaut und seinen Höhepunkt erreicht.
Ob sie diesmal den Bogen überspannen? Oder haben sie aus der ersten Episode der
Geschichte gelernt und es wird ein Happy End geben?
Es dauerte nur wenige Wochen bis zum ersten kleinen
Riss in der Familienmaske.
Noch kann ihn keine sehen.
Zumindest kein
Außenstehender.
Aber auch die Familie hatte sich offensichtlich dazu
entschlossen die Augen zu verschließen. Die Veränderung ist auf den ersten
Blick nicht erwähnenswert und doch von entscheidender Bedeutung.
Ich erkannte sie.
Ich hatte diese Beobachtung schon einmal gemacht.
An einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit.
Aber das Resultat kann ich von meinem Fenster aus
sehen. Schafe auf einer Wiese anstatt einem Hinterhof in der Stadt.
Menschen können einfach nicht anders, sie fallen
immer in alte Verhaltensmuster zurück. Die Umgebung spielt dabei nur eine
nebensächliche Rolle. Sie kann es beschleunigen oder verlangsamen, aber nicht
verhindern.
In den ersten Wochen hatten meine Eltern ihre Wecker
immer etwas früher gestellt, um ungestört Zeit miteinander im Schlafzimmer zu
haben. Sie wussten nicht, dass wir es hören konnten.
Dass das Haus so hellhörig ist.
In den letzten Wochen wurden die Geräusche weniger.
Der Morgen ruhiger.
Nicht dass es mich grundsätzlich stören wurde, denn
immerhin konnte ich auf diese Weise ein wenig länger in meiner heilen Traumwelt
verbringen. Das Wissen ignorieren, dass Wissen, dass mich ohne Unterlass und
unmissverständlich daran erinnert, was nach der Stille am Morgen folgen würde.
Noch ist es nicht soweit. Noch kann ich die Vorahnungen verdrängen. Aber nicht
nur ich spüre die Veränderung.
Auch meine kleine Schwester nutzt die Gelegenheit
dazu, ihre Macht über meinen kleinen Bruder auszubauen. Je weniger meine Eltern
miteinander sprechen, umso besser kann sie die Erwachsenen gegeneinander
ausspielen. Bei meiner Mutter fand sie als kleine Kopie besonderen Anklang.
Hatte sie meinem Bruder wieder einmal etwas weggenommen, musste sie nur auf
kleines, unschuldiges Mädchen machen, dass nie etwas böses im Sinn haben
könnte. Wollte der fiese kleine Bruder etwa seine Sachen nicht mit der lieben
kleinen Schwester teilen?
Im Gegensatz dazu nutzt sie bei unserem Vater einen
anderen Hebel, mit dem gleichen Ergebnis am Ende. Wenn er seine Sache nicht
einmal gegen seine schwache kleine Schwester verteidigen kann, wie konnte er
sie dann jemals verdient haben?
Es hatte somit nur wenige Wochen gedauert, bis meine
Eltern wieder damit begannen, sich voneinander zu entfremden, meine kleine
Schwester meinen kleinen Bruder schlimmer als in der Vergangenheit unterdrückte
und die Weichen für den Anfang vom Ende unserer kleinen Familie gestellt waren.
Doch was macht meine große Schwester? Was mache ich?
Ich habe es schon erwähnt.
Der Mensch neigt dazu, unabhängig davon ob sie sich
in der Vergangenheit bewährt hatten, in alte Verhaltensmuster zurückzufallen.
Meine große Schwester bildet in dieser Hinsicht
keine Ausnahme.
In unserem alten Leben, als ich noch nicht jeden
Abend die Schafe im Sonnenuntergang beim Fressen beobachten konnte, hatte sie
für sich eine Möglichkeit gefunden dem Familiendrama zu entgehen.
Flucht.
Sie war nicht direkt davon gelaufen – auf die Behaglichkeit
eines eigenen Zimmers und regelmäßiger Mahlzeiten würde sie sicher nie
freiwillig verzichten – aber ihr Geist befand sich seit langem auf der Flucht.
Erst nur im Haus und bei Anwesenheit der Familie,
mit zunehmenden Gerüchten über das Verhalten meiner Eltern aber auch in der
Schule und bei Freunden.
Langsam fing es an.
Stetig kamen die Veränderungen.
Dauerhaft wurde das Schweigen.
Bevor es zum Auszug aus dem Stadthaus und zum Einzug
in der Abgeschiedenheit des Dorfes kam, hatte sie schon seit mehreren Wochen
kaum ein Wort gesprochen. Dabei war sie nicht direkt ruhig oder zurückhaltend.
Vielmehr schien sie zu einer Maske erstarrt zu sein. Aber keine Maske in böser
Absicht, sondern eine Maske der Zuflucht.
Eine Maske des Schutzes.
Sie begann zunehmend auf ihr Aussehen zu achten.
Perfekt gestylt.
Perfekt angezogen.
Perfekte Haut. Gebräunt und makellos.
Eine Puppe, eine Maske.
Schön und leblos.
Sie lächelte zwar an den richtigen Stellen, aber
echt wirkte es nie. Wann immer es sich nicht vermeiden lies, saß sie bei
Gesprächen dabei, sprach aber selbst kaum ein Wort. Sie war zwar anwesend, aber
doch nie wirklich da. Ich vermute, es war ihre Art um Hilfe und Aufmerksamkeit
zu schreien. Stille Schreie. Doch keiner kümmerte sich um sie. Keiner hörte ihr
zu. Keiner sah was passierte. Auch ich konnte ihr nicht helfen, musste
stattdessen hilflos beobachten, wie ich sie mehr und mehr als Schwester verlor.
Der Umzug änderte viel.
Zumindest zu beginn. Die neuen Jugendlichen in der
Schule schafften es sie zu erreichen. Sie wussten nichts über unsere
Vergangenheit, über unsere Eltern, über unsere Masken, über unser altes
Leben. Für sie war meine Schwester nur ein wunderschönes Mädchen, das aus der
fernen großen Stadt kam und folglich das Interesse aller auf sich zog.
Keine Gerüchte.
Kein Grund sich verstecken oder zu fliehen.
Sie legte ihre Maske ab und fand Freunde. Wenn sie
die Zeit mit ihnen verbringt sieht sie glücklich aus. In letzter Zeit ist sie
nahezu jede freie Minute mit ihnen unterwegs. Kaum noch in unserem neuen Haus.
Kaum noch bei ihrer neuen alten Familie. Und wenn sie hier ist, sehe ich die
ersten Anzeichen dafür, dass ihre Flucht erneut begonnen hat. Auch sie muss die
Veränderung bei unseren Eltern bemerkt haben.
Ich hatte die Hoffnung, dass die neuen Freunde
verhindern können, dass sie in ihr altes Verhaltensmuster zurückfällt.
Aber wie zu Anfang bemerkt stellt sie keine Ausnahme
dar.
Das Schweigen hat erneut begonnen.
In Anwesenheit der Familie sind die Zeichen
unverwechselbar. Ich werde sie wieder verlieren.
Das ist also meine Familie. Meine Eltern belügen und
betrügen sich. Sie drehen sich in ihrer Eigenen Welt stetig im Kreis und
versuchen dabei die Wahrheit zu vertuschen, zu ignorieren. Sie zerstören damit
alles und jeden. Meine kleine Schwester hat gelernt die Situation zu ihrem
Vorteil zu nutzen und mit Hilfe meiner Eltern meinen kleinen Bruder zu
unterdrücken. Dieser ist vermutlich noch der Beste von uns allen, denn er ist
nicht in der Lage jemanden Leid zuzufügen oder jemanden zu hintergehen. Gleichzeitig ist
er aber zu schwach um in dieser Familie auf lange Sicht zu überleben. Meine
große Schwester wiederrum ist auf der Flucht vor uns, vor der Realität sowie
vor dem was noch kommen muss und wird.
Bleibe also nur noch ich.
Was bin ich und was mache ich?
Wie gehe ich mit dem Drama meiner Familie um?
Zu diesem Zeitpunkt weiß ich es noch nicht. Zu
diesem Zeitpunkt bin ich noch ein unschuldiger zwölfjähriger Junge. Aber ich
werde meiner Familie den Todesstoß geben. Ich werde meine Familie vernichten,
denn ich werde ihnen ihre Masken nehmen und ihr gekünsteltes Lachen in Schreie
verwandeln.
Ich flüchte nicht, ich unterdrücke nicht und ich
lasse mich auch nicht unterdrücken.
Ich beobachte.
Ich bin Luft.
Nicht schweigend wie meine Schwester mit ihrem
lautlosen Schrei nach Hilfe, sondern unscheinbarer. Ich bin da und werde doch
nicht beachtet. Ich spreche und doch hört mir keiner zu. Ich atme, lachte,
schreie und doch reagiert meine Umwelt nicht auf mich. Zwei Kinder die auf unterschiedliche
Arten nach Geborgenheit und Liebe suchen. Zwei verschiedene Wege um
Aufmerksamkeit zu erringen. Zwei Möglichkeiten auf die Ignoranz der Eltern zu
reagieren.
Flucht oder Angriff.
Passiv oder aggressiv.
Ergeben oder kämpfen.
Während meine Schwester wieder in ihre Flucht
zurückfällt, entscheide ich mich zum Angriff. Für den Kampf. Wenn die Erwachsenen
mir ihre Aufmerksamkeit nicht schenken wollen, bleibt mir nichts anders übrig,
als ihn ihre Welt einzudringen und sie zu zwingen mir zuzuhören.
Als ich mich zu dieser Strategie entscheide,
erschaffe ich mich. In diesem Moment zerstöre ich den unschuldigen Jungen in
mir und beginne mit meiner Mission, den Menschen zu zeigen, was sich hinter
ihren Masken verbirgt.
Am späten Nachmittag betritt mein neues Ich zum
ersten Mal unser Haus.
Lachen ist aus dem Wohnzimmer zu hören. Das laute,
fast schrille Lachen meiner Mutter und das leise, zurückhaltende Kichern meiner
großen Schwester. Auch das leicht gezwungene Lachen meiner kleinen Schwester
mischt sich darunter und ich kann mir gut vorstellen, wie mein Bruder mit einem
Grinsen am Tisch sitzt. Fast klingt es echt. Fast sieht es echt aus.
Aber es ist nur ihre Maske die sie tragen, denn
unsere Nachbarin ist zu Besuch und erzählt einen ihrer alten Witze. Sie wäre
sicher enttäuscht wenn keiner lachen würde.
Meine Mutter ruft nach mir.
Sie muss die Eingangstür gehört haben.
Ich soll dazukommen, ein Stück Kuchen essen und
mitlachen. Ich soll ein braver Junge sein.
Aber den gibt es nicht mehr. Mein neues Ich will
nicht mit der fetten Nachbarin am Tisch sitzen und so tun, als würde ich sie
mögen, ihre Scherze lustig finden und mich gerne mit ihr unterhalten.
Ich möchte nicht nett sein, nicht brav sein.
Also sage ich es ihr. Sage ihr, was ich denke. Mein
Rucksack fliegt in die Ecke und noch bevor ich nachdenken kann tragen mich
meine Beine die Treppe nach oben.
Aus dem Augenwinkel bekomme ich noch mit, wie mein
Rucksack eine der vielen Deko – Vasen zerschlägt, umkippt und mein Schulzeug
unter die Scherben der Vase mischt. Ich sehe, wie meine Mutter darum ringt, die
Fassung zu waren. Wie die übergewichtige Nachbarin versucht aufzuspringen und
ihr Gesicht sich rot verfärbt.
Ich habe meine Maske nicht getragen.
Ich habe sie gekränkt.
Es hat mir gefallen.
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