Es dauerte nur wenige Wochen bis zum ersten kleinen
Riss in der Familienmaske.
Noch kann ihn keine sehen.
Zumindest kein
Außenstehender.
Aber auch die Familie hatte sich offensichtlich dazu
entschlossen die Augen zu verschließen. Die Veränderung ist auf den ersten
Blick nicht erwähnenswert und doch von entscheidender Bedeutung.
Ich erkannte sie.
Ich hatte diese Beobachtung schon einmal gemacht.
An einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit.
Aber das Resultat kann ich von meinem Fenster aus
sehen. Schafe auf einer Wiese anstatt einem Hinterhof in der Stadt.
Menschen können einfach nicht anders, sie fallen
immer in alte Verhaltensmuster zurück. Die Umgebung spielt dabei nur eine
nebensächliche Rolle. Sie kann es beschleunigen oder verlangsamen, aber nicht
verhindern.
In den ersten Wochen hatten meine Eltern ihre Wecker
immer etwas früher gestellt, um ungestört Zeit miteinander im Schlafzimmer zu
haben. Sie wussten nicht, dass wir es hören konnten.
Dass das Haus so hellhörig ist.
In den letzten Wochen wurden die Geräusche weniger.
Der Morgen ruhiger.
Nicht dass es mich grundsätzlich stören wurde, denn
immerhin konnte ich auf diese Weise ein wenig länger in meiner heilen Traumwelt
verbringen. Das Wissen ignorieren, dass Wissen, dass mich ohne Unterlass und
unmissverständlich daran erinnert, was nach der Stille am Morgen folgen würde.
Noch ist es nicht soweit. Noch kann ich die Vorahnungen verdrängen. Aber nicht
nur ich spüre die Veränderung.
Auch meine kleine Schwester nutzt die Gelegenheit
dazu, ihre Macht über meinen kleinen Bruder auszubauen. Je weniger meine Eltern
miteinander sprechen, umso besser kann sie die Erwachsenen gegeneinander
ausspielen. Bei meiner Mutter fand sie als kleine Kopie besonderen Anklang.
Hatte sie meinem Bruder wieder einmal etwas weggenommen, musste sie nur auf
kleines, unschuldiges Mädchen machen, dass nie etwas böses im Sinn haben
könnte. Wollte der fiese kleine Bruder etwa seine Sachen nicht mit der lieben
kleinen Schwester teilen?
Im Gegensatz dazu nutzt sie bei unserem Vater einen
anderen Hebel, mit dem gleichen Ergebnis am Ende. Wenn er seine Sache nicht
einmal gegen seine schwache kleine Schwester verteidigen kann, wie konnte er
sie dann jemals verdient haben?
Es hatte somit nur wenige Wochen gedauert, bis meine
Eltern wieder damit begannen, sich voneinander zu entfremden, meine kleine
Schwester meinen kleinen Bruder schlimmer als in der Vergangenheit unterdrückte
und die Weichen für den Anfang vom Ende unserer kleinen Familie gestellt waren.
Doch was macht meine große Schwester? Was mache ich?
Ich habe es schon erwähnt.
Der Mensch neigt dazu, unabhängig davon ob sie sich
in der Vergangenheit bewährt hatten, in alte Verhaltensmuster zurückzufallen.
Meine große Schwester bildet in dieser Hinsicht
keine Ausnahme.
In unserem alten Leben, als ich noch nicht jeden
Abend die Schafe im Sonnenuntergang beim Fressen beobachten konnte, hatte sie
für sich eine Möglichkeit gefunden dem Familiendrama zu entgehen.
Flucht.
Sie war nicht direkt davon gelaufen – auf die Behaglichkeit
eines eigenen Zimmers und regelmäßiger Mahlzeiten würde sie sicher nie
freiwillig verzichten – aber ihr Geist befand sich seit langem auf der Flucht.
Erst nur im Haus und bei Anwesenheit der Familie,
mit zunehmenden Gerüchten über das Verhalten meiner Eltern aber auch in der
Schule und bei Freunden.
Langsam fing es an.
Stetig kamen die Veränderungen.
Dauerhaft wurde das Schweigen.
Bevor es zum Auszug aus dem Stadthaus und zum Einzug
in der Abgeschiedenheit des Dorfes kam, hatte sie schon seit mehreren Wochen
kaum ein Wort gesprochen. Dabei war sie nicht direkt ruhig oder zurückhaltend.
Vielmehr schien sie zu einer Maske erstarrt zu sein. Aber keine Maske in böser
Absicht, sondern eine Maske der Zuflucht.
Eine Maske des Schutzes.
Sie begann zunehmend auf ihr Aussehen zu achten.
Perfekt gestylt.
Perfekt angezogen.
Perfekte Haut. Gebräunt und makellos.
Eine Puppe, eine Maske.
Schön und leblos.
Sie lächelte zwar an den richtigen Stellen, aber
echt wirkte es nie. Wann immer es sich nicht vermeiden lies, saß sie bei
Gesprächen dabei, sprach aber selbst kaum ein Wort. Sie war zwar anwesend, aber
doch nie wirklich da. Ich vermute, es war ihre Art um Hilfe und Aufmerksamkeit
zu schreien. Stille Schreie. Doch keiner kümmerte sich um sie. Keiner hörte ihr
zu. Keiner sah was passierte. Auch ich konnte ihr nicht helfen, musste
stattdessen hilflos beobachten, wie ich sie mehr und mehr als Schwester verlor.
Der Umzug änderte viel.
Zumindest zu beginn. Die neuen Jugendlichen in der
Schule schafften es sie zu erreichen. Sie wussten nichts über unsere
Vergangenheit, über unsere Eltern, über unsere Masken, über unser altes
Leben. Für sie war meine Schwester nur ein wunderschönes Mädchen, das aus der
fernen großen Stadt kam und folglich das Interesse aller auf sich zog.
Keine Gerüchte.
Kein Grund sich verstecken oder zu fliehen.
Sie legte ihre Maske ab und fand Freunde. Wenn sie
die Zeit mit ihnen verbringt sieht sie glücklich aus. In letzter Zeit ist sie
nahezu jede freie Minute mit ihnen unterwegs. Kaum noch in unserem neuen Haus.
Kaum noch bei ihrer neuen alten Familie. Und wenn sie hier ist, sehe ich die
ersten Anzeichen dafür, dass ihre Flucht erneut begonnen hat. Auch sie muss die
Veränderung bei unseren Eltern bemerkt haben.
Ich hatte die Hoffnung, dass die neuen Freunde
verhindern können, dass sie in ihr altes Verhaltensmuster zurückfällt.
Aber wie zu Anfang bemerkt stellt sie keine Ausnahme
dar.
Das Schweigen hat erneut begonnen.
In Anwesenheit der Familie sind die Zeichen
unverwechselbar. Ich werde sie wieder verlieren.
Das ist also meine Familie. Meine Eltern belügen und
betrügen sich. Sie drehen sich in ihrer Eigenen Welt stetig im Kreis und
versuchen dabei die Wahrheit zu vertuschen, zu ignorieren. Sie zerstören damit
alles und jeden. Meine kleine Schwester hat gelernt die Situation zu ihrem
Vorteil zu nutzen und mit Hilfe meiner Eltern meinen kleinen Bruder zu
unterdrücken. Dieser ist vermutlich noch der Beste von uns allen, denn er ist
nicht in der Lage jemanden Leid zuzufügen oder jemanden zu hintergehen. Gleichzeitig ist
er aber zu schwach um in dieser Familie auf lange Sicht zu überleben. Meine
große Schwester wiederrum ist auf der Flucht vor uns, vor der Realität sowie
vor dem was noch kommen muss und wird.
Bleibe also nur noch ich.
Was bin ich und was mache ich?
Wie gehe ich mit dem Drama meiner Familie um?
Zu diesem Zeitpunkt weiß ich es noch nicht. Zu
diesem Zeitpunkt bin ich noch ein unschuldiger zwölfjähriger Junge. Aber ich
werde meiner Familie den Todesstoß geben. Ich werde meine Familie vernichten,
denn ich werde ihnen ihre Masken nehmen und ihr gekünsteltes Lachen in Schreie
verwandeln.
Ich flüchte nicht, ich unterdrücke nicht und ich
lasse mich auch nicht unterdrücken.
Ich beobachte.
Ich bin Luft.
Nicht schweigend wie meine Schwester mit ihrem
lautlosen Schrei nach Hilfe, sondern unscheinbarer. Ich bin da und werde doch
nicht beachtet. Ich spreche und doch hört mir keiner zu. Ich atme, lachte,
schreie und doch reagiert meine Umwelt nicht auf mich. Zwei Kinder die auf unterschiedliche
Arten nach Geborgenheit und Liebe suchen. Zwei verschiedene Wege um
Aufmerksamkeit zu erringen. Zwei Möglichkeiten auf die Ignoranz der Eltern zu
reagieren.
Flucht oder Angriff.
Passiv oder aggressiv.
Ergeben oder kämpfen.
Während meine Schwester wieder in ihre Flucht
zurückfällt, entscheide ich mich zum Angriff. Für den Kampf. Wenn die Erwachsenen
mir ihre Aufmerksamkeit nicht schenken wollen, bleibt mir nichts anders übrig,
als ihn ihre Welt einzudringen und sie zu zwingen mir zuzuhören.
Als ich mich zu dieser Strategie entscheide,
erschaffe ich mich. In diesem Moment zerstöre ich den unschuldigen Jungen in
mir und beginne mit meiner Mission, den Menschen zu zeigen, was sich hinter
ihren Masken verbirgt.
Am späten Nachmittag betritt mein neues Ich zum
ersten Mal unser Haus.
Lachen ist aus dem Wohnzimmer zu hören. Das laute,
fast schrille Lachen meiner Mutter und das leise, zurückhaltende Kichern meiner
großen Schwester. Auch das leicht gezwungene Lachen meiner kleinen Schwester
mischt sich darunter und ich kann mir gut vorstellen, wie mein Bruder mit einem
Grinsen am Tisch sitzt. Fast klingt es echt. Fast sieht es echt aus.
Aber es ist nur ihre Maske die sie tragen, denn
unsere Nachbarin ist zu Besuch und erzählt einen ihrer alten Witze. Sie wäre
sicher enttäuscht wenn keiner lachen würde.
Meine Mutter ruft nach mir.
Sie muss die Eingangstür gehört haben.
Ich soll dazukommen, ein Stück Kuchen essen und
mitlachen. Ich soll ein braver Junge sein.
Aber den gibt es nicht mehr. Mein neues Ich will
nicht mit der fetten Nachbarin am Tisch sitzen und so tun, als würde ich sie
mögen, ihre Scherze lustig finden und mich gerne mit ihr unterhalten.
Ich möchte nicht nett sein, nicht brav sein.
Also sage ich es ihr. Sage ihr, was ich denke. Mein
Rucksack fliegt in die Ecke und noch bevor ich nachdenken kann tragen mich
meine Beine die Treppe nach oben.
Aus dem Augenwinkel bekomme ich noch mit, wie mein
Rucksack eine der vielen Deko – Vasen zerschlägt, umkippt und mein Schulzeug
unter die Scherben der Vase mischt. Ich sehe, wie meine Mutter darum ringt, die
Fassung zu waren. Wie die übergewichtige Nachbarin versucht aufzuspringen und
ihr Gesicht sich rot verfärbt.
Ich habe meine Maske nicht getragen.
Ich habe sie gekränkt.
Es hat mir gefallen.





























