Sonntag, 26. April 2015

Masken Kapitel 3 / Teil 3



Es dauerte nur wenige Wochen bis zum ersten kleinen Riss in der Familienmaske. 
Noch kann ihn keine sehen. 
Zumindest kein Außenstehender. 
Aber auch die Familie hatte sich offensichtlich dazu entschlossen die Augen zu verschließen. Die Veränderung ist auf den ersten Blick nicht erwähnenswert und doch von entscheidender Bedeutung.
Ich erkannte sie.
Ich hatte diese Beobachtung schon einmal gemacht.
An einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit.
Aber das Resultat kann ich von meinem Fenster aus sehen. Schafe auf einer Wiese anstatt einem Hinterhof in der Stadt.
Menschen können einfach nicht anders, sie fallen immer in alte Verhaltensmuster zurück. Die Umgebung spielt dabei nur eine nebensächliche Rolle. Sie kann es beschleunigen oder verlangsamen, aber nicht verhindern.
In den ersten Wochen hatten meine Eltern ihre Wecker immer etwas früher gestellt, um ungestört Zeit miteinander im Schlafzimmer zu haben. Sie wussten nicht, dass wir es hören konnten.
Dass das Haus so hellhörig ist.
In den letzten Wochen wurden die Geräusche weniger.
Der Morgen ruhiger.
Nicht dass es mich grundsätzlich stören wurde, denn immerhin konnte ich auf diese Weise ein wenig länger in meiner heilen Traumwelt verbringen. Das Wissen ignorieren, dass Wissen, dass mich ohne Unterlass und unmissverständlich daran erinnert, was nach der Stille am Morgen folgen würde. Noch ist es nicht soweit. Noch kann ich die Vorahnungen verdrängen. Aber nicht nur ich spüre die Veränderung.
Auch meine kleine Schwester nutzt die Gelegenheit dazu, ihre Macht über meinen kleinen Bruder auszubauen. Je weniger meine Eltern miteinander sprechen, umso besser kann sie die Erwachsenen gegeneinander ausspielen. Bei meiner Mutter fand sie als kleine Kopie besonderen Anklang. Hatte sie meinem Bruder wieder einmal etwas weggenommen, musste sie nur auf kleines, unschuldiges Mädchen machen, dass nie etwas böses im Sinn haben könnte. Wollte der fiese kleine Bruder etwa seine Sachen nicht mit der lieben kleinen Schwester teilen?
Im Gegensatz dazu nutzt sie bei unserem Vater einen anderen Hebel, mit dem gleichen Ergebnis am Ende. Wenn er seine Sache nicht einmal gegen seine schwache kleine Schwester verteidigen kann, wie konnte er sie dann jemals verdient haben?
Es hatte somit nur wenige Wochen gedauert, bis meine Eltern wieder damit begannen, sich voneinander zu entfremden, meine kleine Schwester meinen kleinen Bruder schlimmer als in der Vergangenheit unterdrückte und die Weichen für den Anfang vom Ende unserer kleinen Familie gestellt waren.
Doch was macht meine große Schwester? Was mache ich?

Ich habe es schon erwähnt.
Der Mensch neigt dazu, unabhängig davon ob sie sich in der Vergangenheit bewährt hatten, in alte Verhaltensmuster zurückzufallen.
Meine große Schwester bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme.
In unserem alten Leben, als ich noch nicht jeden Abend die Schafe im Sonnenuntergang beim Fressen beobachten konnte, hatte sie für sich eine Möglichkeit gefunden dem Familiendrama zu entgehen.
Flucht.
Sie war nicht direkt davon gelaufen – auf die Behaglichkeit eines eigenen Zimmers und regelmäßiger Mahlzeiten würde sie sicher nie freiwillig verzichten – aber ihr Geist befand sich seit langem auf der Flucht.
Erst nur im Haus und bei Anwesenheit der Familie, mit zunehmenden Gerüchten über das Verhalten meiner Eltern aber auch in der Schule und bei Freunden.
Langsam fing es an.
Stetig kamen die Veränderungen.
Dauerhaft wurde das Schweigen.
Bevor es zum Auszug aus dem Stadthaus und zum Einzug in der Abgeschiedenheit des Dorfes kam, hatte sie schon seit mehreren Wochen kaum ein Wort gesprochen. Dabei war sie nicht direkt ruhig oder zurückhaltend. Vielmehr schien sie zu einer Maske erstarrt zu sein. Aber keine Maske in böser Absicht, sondern eine Maske der Zuflucht. 
Eine Maske des Schutzes.
Sie begann zunehmend auf ihr Aussehen zu achten.
Perfekt gestylt.
Perfekt angezogen.
Perfekte Haut. Gebräunt und makellos.
Eine Puppe, eine Maske.
Schön und leblos.
Sie lächelte zwar an den richtigen Stellen, aber echt wirkte es nie. Wann immer es sich nicht vermeiden lies, saß sie bei Gesprächen dabei, sprach aber selbst kaum ein Wort. Sie war zwar anwesend, aber doch nie wirklich da. Ich vermute, es war ihre Art um Hilfe und Aufmerksamkeit zu schreien. Stille Schreie. Doch keiner kümmerte sich um sie. Keiner hörte ihr zu. Keiner sah was passierte. Auch ich konnte ihr nicht helfen, musste stattdessen hilflos beobachten, wie ich sie mehr und mehr als Schwester verlor.
Der Umzug änderte viel.
Zumindest zu beginn. Die neuen Jugendlichen in der Schule schafften es sie zu erreichen. Sie wussten nichts über unsere Vergangenheit, über unsere Eltern, über unsere Masken, über unser altes Leben. Für sie war meine Schwester nur ein wunderschönes Mädchen, das aus der fernen großen Stadt kam und folglich das Interesse aller auf sich zog.
Keine Gerüchte.
Kein Grund sich verstecken oder zu fliehen.
Sie legte ihre Maske ab und fand Freunde. Wenn sie die Zeit mit ihnen verbringt sieht sie glücklich aus. In letzter Zeit ist sie nahezu jede freie Minute mit ihnen unterwegs. Kaum noch in unserem neuen Haus. Kaum noch bei ihrer neuen alten Familie. Und wenn sie hier ist, sehe ich die ersten Anzeichen dafür, dass ihre Flucht erneut begonnen hat. Auch sie muss die Veränderung bei unseren Eltern bemerkt haben.
Ich hatte die Hoffnung, dass die neuen Freunde verhindern können, dass sie in ihr altes Verhaltensmuster zurückfällt.
Aber wie zu Anfang bemerkt stellt sie keine Ausnahme dar.
Das Schweigen hat erneut begonnen.
In Anwesenheit der Familie sind die Zeichen unverwechselbar. Ich werde sie wieder verlieren.

Das ist also meine Familie. Meine Eltern belügen und betrügen sich. Sie drehen sich in ihrer Eigenen Welt stetig im Kreis und versuchen dabei die Wahrheit zu vertuschen, zu ignorieren. Sie zerstören damit alles und jeden. Meine kleine Schwester hat gelernt die Situation zu ihrem Vorteil zu nutzen und mit Hilfe meiner Eltern meinen kleinen Bruder zu unterdrücken. Dieser ist vermutlich noch der Beste von uns allen, denn er ist nicht in der Lage jemanden Leid zuzufügen oder jemanden zu hintergehen. Gleichzeitig ist er aber zu schwach um in dieser Familie auf lange Sicht zu überleben. Meine große Schwester wiederrum ist auf der Flucht vor uns, vor der Realität sowie vor dem was noch kommen muss und wird.
Bleibe also nur noch ich.
Was bin ich und was mache ich?
Wie gehe ich mit dem Drama meiner Familie um? 
Zu diesem Zeitpunkt weiß ich es noch nicht. Zu diesem Zeitpunkt bin ich noch ein unschuldiger zwölfjähriger Junge. Aber ich werde meiner Familie den Todesstoß geben. Ich werde meine Familie vernichten, denn ich werde ihnen ihre Masken nehmen und ihr gekünsteltes Lachen in Schreie verwandeln.
Ich flüchte nicht, ich unterdrücke nicht und ich lasse mich auch nicht unterdrücken.
Ich beobachte.
Ich bin Luft.
Nicht schweigend wie meine Schwester mit ihrem lautlosen Schrei nach Hilfe, sondern unscheinbarer. Ich bin da und werde doch nicht beachtet. Ich spreche und doch hört mir keiner zu. Ich atme, lachte, schreie und doch reagiert meine Umwelt nicht auf mich. Zwei Kinder die auf unterschiedliche Arten nach Geborgenheit und Liebe suchen. Zwei verschiedene Wege um Aufmerksamkeit zu erringen. Zwei Möglichkeiten auf die Ignoranz der Eltern zu reagieren.
Flucht oder Angriff.
Passiv oder aggressiv.
Ergeben oder kämpfen.
Während meine Schwester wieder in ihre Flucht zurückfällt, entscheide ich mich zum Angriff. Für den Kampf. Wenn die Erwachsenen mir ihre Aufmerksamkeit nicht schenken wollen, bleibt mir nichts anders übrig, als ihn ihre Welt einzudringen und sie zu zwingen mir zuzuhören.
Als ich mich zu dieser Strategie entscheide, erschaffe ich mich. In diesem Moment zerstöre ich den unschuldigen Jungen in mir und beginne mit meiner Mission, den Menschen zu zeigen, was sich hinter ihren Masken verbirgt.
Am späten Nachmittag betritt mein neues Ich zum ersten Mal unser Haus.
Lachen ist aus dem Wohnzimmer zu hören. Das laute, fast schrille Lachen meiner Mutter und das leise, zurückhaltende Kichern meiner großen Schwester. Auch das leicht gezwungene Lachen meiner kleinen Schwester mischt sich darunter und ich kann mir gut vorstellen, wie mein Bruder mit einem Grinsen am Tisch sitzt. Fast klingt es echt. Fast sieht es echt aus.
Aber es ist nur ihre Maske die sie tragen, denn unsere Nachbarin ist zu Besuch und erzählt einen ihrer alten Witze. Sie wäre sicher enttäuscht wenn keiner lachen würde.
Meine Mutter ruft nach mir.
Sie muss die Eingangstür gehört haben.
Ich soll dazukommen, ein Stück Kuchen essen und mitlachen. Ich soll ein braver Junge sein.
Aber den gibt es nicht mehr. Mein neues Ich will nicht mit der fetten Nachbarin am Tisch sitzen und so tun, als würde ich sie mögen, ihre Scherze lustig finden und mich gerne mit ihr unterhalten.
Ich möchte nicht nett sein, nicht brav sein.
Also sage ich es ihr. Sage ihr, was ich denke. Mein Rucksack fliegt in die Ecke und noch bevor ich nachdenken kann tragen mich meine Beine die Treppe nach oben.
Aus dem Augenwinkel bekomme ich noch mit, wie mein Rucksack eine der vielen Deko – Vasen zerschlägt, umkippt und mein Schulzeug unter die Scherben der Vase mischt. Ich sehe, wie meine Mutter darum ringt, die Fassung zu waren. Wie die übergewichtige Nachbarin versucht aufzuspringen und ihr Gesicht sich rot verfärbt.
Ich habe meine Maske nicht getragen.
Ich habe sie gekränkt.
Es hat mir gefallen.

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