Sonntag, 21. Dezember 2014

Masken Kapitel 3 / Teil 1



Kapitel 3 -  Die Familie



Ich schaue aus dem Fenster auf eine grüne, saftige Wiese mit Wildblumen und Kräutern, eingerahmt von einem kleinen Bach und einigen Bäumen. Mehrere Schafe fressen sich in der Abendsonne an den Gräsern des Spätsommers satt. Die ersten Anzeichen des Sonnenuntergangs, eine leichte Verfärbung des Himmels, zeigen sich am fernen Horizont. Nicht mehr lange und die Wiese mit den kleinen Schäfchen wird in ein tiefes rot und orange gedrängt sein.
Ländlich.
Idyllisch.
Wenn doch nur diese Ruhe und der Frieden auch im Haus Einzug erhalten würden.
Ich neige leicht den Kopf und lausche auf das Kreischen meiner Geschwister. Sie streiten sich schon wieder. Vermutlich geht es erneut um die Verteilung der Zimmer. Ich hatte gehofft, dass das Thema erledigt war, als wir das Haus zum letzten Mal vor einer Woche angeschaut haben. Schon damals konnten sie nicht aufhören zu nerven, zu streiten. Jeder will unbedingt das größte und schönste Zimmer haben. Keiner kann dem anderen etwas gönnen.
Geschwister.
Ich habe mich einfach komplett herausgehalten und mir das Zimmer genommen, dass keiner wirklich wollte. Es ist nicht das kleinste. Aber es ist auch nicht das Beste.
Wenn sich alle auf die Nummer eins stürzen, bleiben in der Regel die restlichen Alternativen unbeachtet. Nur meine große Schwester hatte einen ähnlichen Gedanken wie ich und hatte sich das zweitgrößte und zweischönste genommen.
Mit Süd - Balkon.
Mit Sonne.
Auch wenn wir nicht mehr in der großen Stadt wohnen, muss sie doch immer perfekt aussehen. Eine sonnengebräunte Haut gehört da natürlich dazu. Also bekam sie den Balkon und ich das drittschönste Zimmer mit Fenster zum Sonnenuntergang und zu den Schafen.
Auch gut.
Nur hatte diese Verteilung bei den beiden Zwillingen für noch mehr Streit gesorgt, blieb doch nur das schönste, größte und das kleinste Zimmer übrig. Eins mit Balkon, ein mit Fenster nach Norden. Eins hell und einladend, eins verhältnismäßig dunkel und trist.
Streit war da zu erwarten.
Aber sie können nichts dafür.
Nicht wirklich.
Meine Eltern sind das Problem.
Sie sind zu sehr mit ihren eigenen Sachen beschäftigt. Merken nicht, was ihre Kinder machen. Merken nicht was sie brauchen.
Sie sollten eingreifen. Ein Machtwort besprechen. Die Zimmer gerecht verteilen. Aber sie ignorieren es. Hoffen vermutlich, dass sich die Probleme von selbst lösen, wenn sie nur lange genug die Augen davor verschließen.
Jetzt ist aus dem Kreischen ein Heulen geworden. Vermutlich hat meine kleine Schwester ihrem Zwillingsbruder wieder einmal wehgetan. Sie wird es leugnen. Mit ihren großen runden Augen meine Eltern anschauen und gewinnen.
Er hat keine Chance. Er muss die Erwartungen an einen Jungen erfüllen. Heulen gehört nicht dazu. Sich von einem gleichalten Mädchen wehtun lassen auch nicht. Er wird verlieren.
Meine Eltern merken einfach nicht, dass er zu feinfühlig ist und sie zu verschlagen. Sie ist ein Mädchen. In einer perfekten, heilen Welt sind Mädchen nett und freundlich. Aber leben wir in einer perfekten, heilen Welt?
Sie lernt einfach schneller. Hat sich schon einiges von unserer Mutter abgeschaut.
Dazu gehört auch der treuherzigen Blick mit den großen Augen, wenn es Probleme gibt.
Der gleiche Blick, mit dem meine Mutter über Monate ihre Affäre mit einem jüngeren Mann vor meinem Vater verheimlicht hat. Der gleiche Blick, der ihn lange hat an den eindeutigen Zeichen zweifeln und an ihre Worte glauben lassen.
Vermutlich dachte er nicht, dass sie genauso untreu sein könnte wie er. Genauso berechnend. Genauso böse.
Ist böse das richtige Wort? Ich weiß es nicht. Vielleicht ist ein solches Verhalten ja auch normal? Aber hätten sie dann auch so reagiert, wie sie es taten? Wenn es normal wäre?
Als sie herausfanden, wie sehr sie sich doch auch in dieser Hinsicht glichen, beschlossen sie, ihren Probleme davonzulaufen und wegzuziehen.
Natürlich nicht, ohne sich anzuschreien, zu beschimpfen und zu bedrohen. Ruhe kehrte erst ein, als sie aufhörten die Schuld bei sich selbst oder dem Anderen zu suchen. Diese Einstellung machte vieles einfacher.
Nicht sie waren schuld, sondern die schlechte Umgebung. Die Stadt. Die Menschen.
Auf dem Land, in einer kleineren Stadt, mit anderen Menschen würde es besser sein. Würden sie treu sein.
Ich glaube nicht daran. Aber doch hoffe ich, dass sie recht haben. Immerhin sind sie meine Eltern, meine Familie. Was sollte werden, wenn ich nicht einmal an sie glauben kann, ihnen vertrauen kann? Mit meinen 12 Jahren bin ich in einem Alter, wo ich meine Eltern einfach brauche. Als Vorbilder, als rechte und linke Grenze, als Helfer in der Not und als Vertraute.
Ich will es nicht wahrhaben, aber doch weiß ich, dass sie nichts davon erfüllen.
Nicht für mich, nicht für meine Geschwister.
Ein leises Schluchzen zeigt mir, dass mein kleiner Bruder verloren hat. Seine Füße klatschen leise auf dem Laminat, als er seinen Teddy hinter sich herziehend in das kleine Zimmer mit dem Nordfenster schleicht.
Die Stimme meine Mutter direkt hinter ihm, redend und doch nichtssagend. Das Zimmer ist doch schön. Nicht jeder kann das große Zimmer haben. Dir wird es hier gefallen. Einfach nur leere Worte.
Sie merkt nichts.
Versteht nichts.   
Hilft ihm nicht.
Ich mache mir wieder daran, die Kisten auszuräumen.
Der Vorteil davon, dass ich früh wusste welches mein Zimmer sein würde ist, dass die Möbelpacker meine Sachen direkt hineinbringen konnten.
Mein Bett, das Regal, der große Kleiderschrank und mein Schreibtisch stehen schon an ihrem Platz. Nicht mehr lange und alles wird wieder so ordentlich sein wie in meinem alten Zimmer.  Aber das ist auch dringend notwendig. Immerhin sind es nur noch wenige Tage, bis meine Eltern die große Einweihungs- und Kennenlern- Party mit den Nachbarn geplant haben. Bis dahin muss alles perfekt sein. So wenig sie sich auch um unsere Probleme kümmern, umso wichtiger ist ihnen das Bild nach außen.
Die perfekte, harmonische Familie.
Nichts als Show, ein Schauspiel, ein Theaterstück, aber das muss umso überzeugender sein. Es ist eine Maske die wir alle tragen, meine Geschwister, meine Eltern und ich.
In der großen Stadt konnte sie niemanden mehr täuschen, nicht nachdem zu viele Gespielinnen und Affären dahinter schauen konnten. Nachdem die Arbeitskollegen und Mitschüler sich den Mund darüber zerrissen haben. Nachdem meine Eltern sich gegenseitig nicht mehr täuschen konnten.
Aber jetzt sind wir hier.
Alles ist neu.
Neues Haus. Neue Gegend. Neue Nachbarn, Freunde, Arbeitskollegen und Mitschüler.
Neue Masken.
Aber die gleiche Familie. Wie lange wird es wohl dauern, bis sich die ersten Risse in der neuen Fassade zeigen und die Masken verrutschen?
Ich weiß es nicht.
Noch nicht.
Aber es ist nur eine Frage der Zeit.

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